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Die Corona-Infodemie

23.04.2020 | Speakers Corner

Am 12. März 2020 landete in einer privaten Chatgruppe von HeadlineAffairs eine weitergeleitete Nachricht mit guten Nachrichten: taiwanesische Wissenschaftler gaben Entwarnung, denn durch häufiges Trinken könne der Corona-Virus einfach „heruntergespült“ werden. Viel trinken kann ja nicht schaden? Auf den zweiten Blick war der englische „Kettenbrief“ natürlich nicht so harmlos. Ein Faktencheck von Reuters bestätigte: nach Meinung von Ärzten sind die Tipps schlichtweg falsch.

Um es nicht zu verpassen, wichtige Informationen sofort mit Kollegen und Freunden zu teilen, klicken wir gerade in einer bedrohlichen Situation wie einer Pandemie schnell auf den Share-Button. Sechs von 10 Nutzern lesen nicht richtig, was sie teilen. So verbreiten sich Fake News zu Corona. Auf den Hitlisten der Unwahrheiten finden sich lächerliche Fantastereien, unheimliche Verschwörungstheorien und grauenhafte Ratschläge (*in diesem Artikel wird ein kritischer Abstand zu Verschwörungstheorien gehalten, um eine weitere Verbreitung zu vermeiden). Die Folgen von manchen Gerüchten sind todernst. Im Iran starben 44 Menschen, weil sie glaubten Covid-19 durch das Trinken von reinem Alkohol vorbeugen zu können. Ähnlich falsche Behauptungen gibt es über Bleichmittel.

Das Ausmaß in Deutschland: Millionen Menschen werden mit Corona-Mythen konfrontiert

Neben der Corona-Pandemie grassiert die Corona-Infodemie. Ein Beispiel: In einer Datenrecherche von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung (SZ) wurden 19 YouTube-Videos mit wissenschaftlich nicht haltbaren Aussagen zu Corona sechs Wochen beobachtet: zwölf Millionen Menschen sahen die Behauptungen und viele teilten sie. Die Faktenchecks von Journalisten wurden dagegen zwanzigmal seltener geteilt.

Eine Studie aus Oxford, über die die WELT berichtet, zeigt: Die meisten Falschnachrichten sind keine Falschaussagen, sondern Halbwahrheiten und richten sich gegen Institutionen wie die WHO, die UN und nationale Gesundheitsbehörden. Verbreiter sind vor allem prominente Politiker, darunter US-Präsident Trump und der brasilianische Staatschef Bolsonaro. Der Hauptteil der untersuchten Beiträge (etwa 59 Prozent) besteht aus Fakten, die verdreht oder aus dem Kontext gerissen waren. Auf sozialen Medien sind solche Halbwahrheiten besonders erfolgreich, sie werden noch häufiger als manipulierte Bilder oder Videos verbreitet.

Auch einigen Regierungen wird vorgeworfen, bewusst Gerüchte zu streuen. Der Europäische Auswärtige Dienst warnt derzeit vor allem vor staatlich gelenkter Desinformation zu Corona, die aus China und Russland kommen soll. Die EU Kommission versucht mit Aufklärung gegenzusteuern (über die Arbeit der EU gegen Falschinformationen haben wir schon früher berichtet). Auch zum Thema Covid klären EU-Websites auf.

Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter haben sich nun in einem Kodex verpflichtet, Desinformation zu bekämpfen, dies beruht aber auf Freiwilligkeit. Beim Umgang mit Informationen sind von den Nutzern deshalb Eigenverantwortung, kritisches Denken und Nachforschen gefragt. Einen Überblick zu Faktencheck-Portalen gibt z.B. netzpolitik.org.

Klassische Medien gewinnen in der Krise an Popularität – erobern sie verlorenes Vertrauen zurück?

„Wahrheit braucht Zeit“, zitiert Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Uni Tübingen, den Netzphilosophen Peter Glaser in einem aktuellen ZEIT-Beitrag. Kritisch analysiert Pörksen die aktuelle Berichterstattung und will zeigen: neutrale, kritische Nachrichten sind keine Selbstverständlichkeit. Journalisten arbeiten unter Zeitdruck und trotz Informationsflut daran, Standards gerecht zu werden. Meist gelinge das laut Pörksens. Doch auch Journalisten sind Menschen und tappen manchmal in Fallen; seien zu zynisch oder zu unkritisch oder stilisierten Menschen auf kontraproduktive Weise zu Helden, um gute Geschichten zu erzählen oder Solidarität zu zeigen.

Wenn diese Fallen umgangen werden, kann kritischer Journalismus uns jedoch dabei helfen, der Wahrheit näherzukommen als soziale Medien, denn diese leben vom schnellen Teilen einer Botschaft, ob wahr oder nicht. Auch andere Quellen, in denen die Wahrheit Zeit hat sich niederzuschlagen, sollten wir (wieder) schätzen lernen und feiern - wie mit dem heutigen Welttag des Buches. Außerdem sind wir aber gefragt, einen langen Atemzug zu nehmen, bevor wir auf den Share-Button klicken.

Um das Thema Fakt und Fiktion näher zu beleuchten, hat HeadlineAffairs einen Buchband mit Essays herausgebracht. Sie können ihn hier herunterladen. Gerne schicken wir Ihnen auf Anfrage eine gebundene Ausgabe zu.


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