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Russland und die Wahrheit – fragen wir Radio Eriwan

27.11.2019 | Speakers Corner

Quelle: HA

Anfrage an Radio Eriwan: Stimmt es, dass Iwan Iwanowitsch in der Lotterie ein rotes Auto gewonnen hat?

Antwort: Im Prinzip, ja. Aber es war nicht Iwan Iwanowitsch, sondern Pjotr Petrowitsch. Und es war kein rotes Auto, sondern ein blaues Fahrrad. Und er hat es nicht gewonnen, sondern es wurde ihm gestohlen. Alles andere stimmt.

Radio Eriwan, das fiktive russische Radio des kalten Krieges, welches alle fiktiven Fragen mit „Im Prinzip, ja ...“ beantwortete, war eine Parodie auf die sozialistische Propaganda, die den Menschen ein Leben im Ost Glück suggerierte. Mit Humor ließen sich hier viele Defizite im realen sozialistischen Alltag leichter ertragen. Propaganda war zu Beginn der Evolution von Massenmedien im Westen wie im Osten ein aprobates Mittel im Kampf um die Deutungshoheit von kommunistischen und kapitalistischen Wirklichkeiten.

Und wer kennt heute noch die Prawda? Prawda heißt übersetzt Wahrheit und ist eine russische Tageszeitung, die zu ihren Glanzzeiten eine Auflage von zeitweise über 10 Millionen Exemplaren hatte. Als Sprachorgan der Arbeiterklasse 1912 gegründet, schrieb eben diese innerhalb des ersten Jahres mehr als 11.000 Beiträge. Um die Arbeit der staatlichen Zensur zu erschweren, gab es 40 Pseudoherausgeber. Die Zeitung erschien regelmäßig unter anderen Namen, wie zum Beispiel als Arbeiterwahrheit, Wahrheit des Nordens, Weg der Wahrheit und als Wahrheit der Arbeit. Nach der Februarrevolution 1917 subventionierte die deutsche Reichsregierung das Blatt, in der Hoffnung auf ein rasches Ausscheiden Russlands aus der Koalition der Kriegsgegner. Die deutsche Besatzungsmacht ließ im Zweiten Weltkrieg in den von ihr besetzten Gebieten sogar eine falsche Prawda (Wahrheit) mit dem Aufruf zur Kooperation verteilen.

Russlands Wettbewerb mit dem Westen

Moskau fühlte sich gegenüber der westlichen PR-Maschine und insbesondere Hollywood stets unterlegen. Die Reise zum Mond war nicht nur technisch, sondern v.a. kommunikativ ein Wettrennen – und die bis heute prägende gewaltige Macht der ersten Mondbilder hatte eben stars & stripes. Eine Befragung im Nachkriegsdeutschland brachte einmal hervor, dass die meisten Deutschen glaubten, v.a. Amerikaner hätten im Krieg die meisten Opfer zu beklagen gehabt, tatsächlich betrugen die Verluste der russischen Seite ein Vielfaches. Das parallel ermittelte (Un-)Verhältnis von auf Deutsch gezeigten amerikanischen Kriegsfilmen gegenüber russischen bietet hier eine plausible Erklärung.

Die Russen haben sich bei den Amerikanern die Bedeutung von manipulativer Deutungs-PR abgeschaut und Putin ist selbst zu einem Großmeister der massenmedialen Inszenierung von Wirklichkeiten geworden. Gemeint sind nicht die olympischen Winterspiele in Sotchi, sondern ein anderes Ereignis im Jahr 2014: Soldaten ohne Hoheitsabzeichen erschienen plötzlich auf der Krim, gaben keine Interviews und waren einfach da. Putin erschuf zunächst Bilder einer kalkulierten Scheinwirklichkeit. Keine Kriegserklärung, keine offensichtliche Gewalt, keine blutigen Bilder, kein Völkerrechtsverstoß, keine Verurteilung. Nachdem er geopolitische Fakten geschaffen hatte, räumte er später fast feixend ein, ja, es seien natürlich russische Soldaten gewesen.

Journalismus "Made in Russia"

Heute steht die russische Propaganda-Maschine v.a. für das gezielte Untertunneln von westlichen Meinungsbollwerken durch Millionen von Internet-Trollen die aus dem Trojanischen Pferd der Sozialen Medien heraus strömen und bei gutgläubigen bzw. naiven Westlern Zweifel säen, Sichtweisen verändern und Spaltung forcieren. Die russische Führung betrachtet Öffentlichkeitsarbeit als ein großes Schachbrett, bei dem man dem Gegner stets einen Zug voraus sein sollte. Dieses sehr langfristig angelegte Stellungsspiel hat gar nicht unbedingt den schnellen Fall des gegnerischen Königs zum Ziel, mit einem Patt wäre man schon zufrieden. Mittels staatlich finanzierter Nachrichtenkanäle und Journalismus "Made in Russia" versucht der Kreml der Macht amerikanischer Informationsdienste wie CNN, die russische Sicht entgegenzusetzen. In Russia Beyond findet sich beispielsweise diese Headline: „Huawei - Zeit für Neues: Das russische Betriebssystem Aurora soll Android ablösen?“ Was, wenn aus dieser Wunsch-Fiktion Wirklichkeit wird?

Russlands Verhältnis zur Wahrheit

Wir lernen: Russland hat ein historisch gespaltenes Verhältnis zur Wahrheit - nicht erst seitdem ebenso bekannten wie offensichtlich retuschierten Foto der Flaggenhissung auf dem Reichstag. Es gilt in Zeiten, in denen Informationsmonopole zunehmend aufbrechen, als eine der aktivsten staatlichen Internet „Aktivisten“ mit einem Hang nicht nur zu einseitigen und zweckgesteuerten Fake News und neuerdings auch Deepfakes, sondern gleich auch zu umfangreichen Cyber-Attacken gegen Unternehmen oder öffentliche Institutionen. Aber vielleicht ist das auch nur eine fiktive James Bond Wirklichkeit?

Leider nein, eine kleine Auflistung relevanter Akteure auf beiden Seiten:

  • Der russische Nachrichtendienst Sputnik braucht keine Korrespondenten, er erfindet lieber gleich die passenden Stories
  • Trollfabriken wie die „Internet Research Agency“ in St. Petersburg beschäftigen Hunderte mehrsprachige Mitarbeiter zur verdeckten Meinungsmache
  • Der Junk News Aggregator der Universität Oxford hat Portale und Nachrichtendienste identifiziert, die gezielte Falschmeldungen distribuieren
  • Das Institut für Strategic Dialogue (ISD) in London spürt radikalen, eher privaten bzw. nichtstaatlichen, Desinformationen nach und meldet sie Sicherheitsbehörden


Auch 105 Jahre nach Gründung der Prawda ist der Umgang mit der Wahrheit in Russland ein zentrales, wenngleich zwiegespaltenes Thema. Ein "Russland Heute"-Autor belehrt seine deutschen Leser: In Russland werde eben „nicht nach dem Gesetz, sondern nach dem Gerechtigkeitssinn“ entschieden.

Frage an Radio Eriwan: „Stimmt es, dass russische Medien und Influencer heute keinerlei staatlicher Zensur unterliegen?“ - „Im Prinzip, ja ...“

Quelle: HA

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