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CHINA in all seiner Widersprüchlichkeit

22.01.2020 | Speakers Corner

Ein animierter Nachrichtensprecher. Vermeintliche Fakten in Form von Fiktion. So etwas Verrücktes klingt gleich weniger verrückt, wenn wir lesen: es kommt aus China.

Von der neuen Weltmacht sind wir bereits einiges gewohnt. Und trotzdem: Als die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua Ende 2018 den neuen computeranimierten Kollegen vorstellte (streng genommen war er nicht ganz neu, denn es handelte sich dabei um das digitale Abbild eines bekannten Moderators), der seine vorgeschriebenen Texte stockend in die Kamera las, mussten wir doch den Kopf schütteln. Wäre das nicht eher eine Lösung für die vielen Journalisten und Blogger gewesen, die Präsident Xi Jinping seit seinem Amtsantritt 2013 verhaften lassen hat, weil sie sich nicht „eng mit den Gedanken, der Politik und den Aktionen der Partei verbünden“, wie er fordert? Sie hätten vielleicht animierte Doubles vorschicken sollen. Doch wer für redaktionelle Unabhängigkeit einsteht, zeigt auch sein wahres Gesicht.

Dieses wahre Gesicht zum Anfassen, dieser Mensch aus Fleisch und Blut ist nicht ersetzbar – persönliche (oder wenigstens telefonische) Interaktion mit Journalisten und Stakeholdern ist und bleibt nicht nur der PR täglich Brot, sondern auch der größte Erfolgsgarant. In der heutigen Zeit, in der über Social Media jeder jederzeit zu jedem Thema mit jeder beliebigen Person kommunizieren (gar befreundet sein) kann, erreichen wir „Medienmenschen“ uns vor allem auf die menschliche Art.

Ein abschreckender Pionier

Auch, wenn China mit dem animierten Nachrichtensprecher wieder unter Beweis stellt, was wir (Europäer) nicht sehen wollen, aber immer wieder unter die Nase gerieben bekommen: Das einstige Agrarland ist dem Kontinent der Dichter und Denker in Sachen digitaler Entwicklung weit voraus. Aber mal ganz ehrlich: Wie erstrebenswert sind solche Entwicklungen? Schlagen wir uns nicht lieber weiter mit kritischen, dafür waschechten, Journalisten herum, als einer gehirnlosen monotonen Puppe zu lauschen? Die klare Antwort lautet: Ja, tun wir!

In China werden längst nicht nur die Nachrichtensprecher geklont. Chinas Partei nutzt wie kein zweites Land die Möglichkeiten von Identitäts- und Tracking-Technologien sowie Big Data und künstlicher Intelligenz, um seine Bewohner zu „besseren Menschen zu erziehen“. Der Staat sieht es als seine Aufgabe an, seine Bürger (und Besucher!) auf Schritt und Tritt zu beobachten und Fehlverhalten zu sanktionieren oder Vorbildverhalten zu belohnen. Was früher Kulturrevolution hieß, nennt man heute „Social Scoring“. Oh Schreck?

Experten widersprechen dem Bild, das sich die internationale Öffentlichkeit von dem Programm macht. Es sei vage und in Teilen vorurteilsbeladen. Aha. Das jedenfalls war Konsens in einer Runde von China-Kennern auf der Digitalkonferenz re:publica, die im Juni 2019 in Berlin stattfand, laut Berichten der Süddeutschen Zeitung. Jeremy Daum, Chinaexperte von der Yale Law School, begreift unseren Blick auf China tiefenpsychologisch: Die Menschen im Westen projizierten ihre Ängste vor digitalen Technologien auf China, ähnlich wie beim Klimaschutz. Man verweigere sich dem entschlossenen Kampf gegen die Erwärmung, aber sage: „Immerhin sind wir nicht China – schau‘ dir an, wie schlecht die Luft dort ist!" Ist sie das wirklich?


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