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Brexit: Meinung über Wissen

31.01.2020 | Speakers Corner

Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9% der wahlberechtigten Briten bei einem Referendum für den Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union – kurz Brexit. Am 24. Juni 2016 berichteten die Medien über die häufigsten Google Suchen in Großbritannien, ganz oben dabei: „Was ist die EU?“

Wieso wurde diese Frage gestellt? In einer demokratischen Gesellschaft dienen Wahlen und Referenden dazu, dem Volk bei maßgebenden Entscheidungen eine Stimme zu geben. Genau wie jede Entscheidung im Leben eines Einzelnen, kann eine Entscheidung intuitiv oder überlegt gefällt werden. Es gibt natürlich auch die Option sich zu enthalten – diesen Weg gingen die 28 Prozent der Bevölkerung, die nicht wählten. 72 Prozent, das sind etwa 33,5 Millionen Wählerinnen und Wähler, nahmen sich jedoch der Verantwortung an, mit ihrer Stimme die Zukunft ihres Landes zu gestalten. Ob es die Wahlbeteiligten oder -unbeteiligten waren, die Google am Tag nach dem Referendum grundlegende Fragen zum Brexit und der EU stellten, ist unklar. Doch unabhängig davon, drängt sich die Überlegung auf, warum die Bürgerinnen und Bürger nicht umfassend aufgeklärt waren.

In unserer durch Social Media geprägten Gesellschaft, hat heute jeder die Möglichkeit, seine Meinung kundzutun. Es ist nicht mehr Ämtern, Öffentlichkeitsarbeitern oder der Presse vorenthalten, „offizielle“ Informationen zu verlauten – auch ein 12-jähriger YouTuber oder ein pensionierter Blogger können das Meinungsbild mitbestimmen. Die Folge ist eine ungeheure Informations- aber schlimmer noch Meinungsflut, deren Herkunft zumindest teilweise unbekannt und Qualität zumeist fragwürdig ist.

Social Media prägt politische Ereignisse

Im herkömmlichen Medienalltag werden Zeitungen, Online-Medien, Fernsehkanäle oder Radiosender durch bestimmte Instanzen informiert – in der Regel sind das Pressesprecher, die Politiker, Unternehmen, aber auch Staatsinstitute wie die Polizei. Abgesehen von letzterem, sind diese Berichte oft subjektiver Natur. Auch wenn Pressesprecher faktenbasiert und umfassend berichten, so bleiben sie immer auch Vertreter ihrer Arbeitgeber und handeln in deren Sinne. Hier kommen die Journalisten ins Spiel. Ihre Aufgabe ist es, die Mitteilungen zu hinterfragen, unterschiedliche Meinungen zu einem Thema einzuholen und diese in ihrer Berichterstattung und ggf. Kommentierung darzulegen. Dadurch soll der Medienkonsument einen neutralen und objektiven Eindruck von der Situation gewinnen. Informationen werden heute aber auch über direkte Kanäle konsumiert, z.B. über Social-Media-Plattformen von Politikern oder Influencern. Diese Mitteilungen wurden in der Regel noch nicht kritisch hinterfragt oder in einen Kontext gesetzt. Sie erzählen häufig eine einseitige Geschichte.

Die großen politischen Ereignisse der letzten Jahre – wie die Wahlkampagnen für die amerikanische Präsidentschaft, die Landes- und Europawahlen oder der Brexit – zeigen die Folge der neuen (Des-) Informationsgesellschaft auf: unzulänglich informierte und manipulierbare Bürger, die täuschenden Aussagen von Politikern Glauben schenken.

Die Lüge auf dem Brexit-Bus

Das lässt sich exemplarisch gut an der plakativen Werbung des Brexit-Busses festmachen, den Brexit-Befürworter Boris Johnson durch England fuhr. Darauf stand: „Wir schicken der EU jede Woche 350 Millionen Pfund.“ Nur wenige Stunden nach dem Referendum, erklärte Nigel Farage, der sich ebenfalls für den Ausstieg aus der EU aktiv gemacht hat, dass die Zahl auf dem Bus falsch sei. Warum er das nicht vor dem Referendum bekanntgegeben habe? Weil er seiner Armee nicht in den Rücken schießen wollte, so der UKIP-Vorsitzende. Mit dieser Begründung beweist er, sich bewusst für Desinformation statt Aufklärung entschieden zu haben.

Einer der Wegbahner der EU, Winston Churchill sagte 1943: „Im Krieg ist die Wahrheit so wertvoll, dass sie immer von einem Leibwächter voll Lügen begleitet werden sollte.“ Um Staatsgeheimnisse oder militärische Taktiken in Kriegszeiten zu schützen, sicherlich eine empfehlenswerte Einsicht. Nigel Farage lebt jedoch in einer friedvollen Demokratie, in der Bürger Entscheidungen über die Zukunft des Landes treffen müssen und deshalb auf wahrhaftige Informationen angewiesen sind. Die Verklärung der Medien zu Gegnern des Volkes ist hierbei ebenso abwegig wie der Glaube, dass sich durch das Internet und die sozialen Medien eine neue demokratische Qualität der politischen Informationsbeschaffung und Meinungsbildung herauskristallisiert hat. Seriöse Öffentlichkeitsarbeiter sollten sich darauf besinnen, dass mit der „Arbeit“ eben auch Mühen wie die Recherche und Verpflichtungen wie das Prüfen des Wahrheitsgehalts verbunden sind.


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